HAMBURG Es ist mucksmäuschenstill im hinteren Teil der Dreifeldhalle am Eidelstedter Steinwiesenweg. Die Spielerinnen hängen an den Lippen ihres Coachs, beobachten seine Gesten. Trainingsbeginn der Damen der Basketball-Spielgemeinschaft (BG) West, eines Zusammenschlusses der Vereine SV Lurup und SV Eidelstedt. Jens Goetz sagt und zeigt mit seinen Händen erste Aufwärmübungen an. Wer genau hinhört und hinsieht, kann seine Anweisungen gut verstehen. Goetz ist gehörlos, entsprechend wenig moduliert klingen seine Laute. Verständigungsschwierigkeiten gibt es keine. Kurze Zeit später laufen die Frauen in Zweiergruppen übers Feld, passen sich die Bälle zu, schließen ihre Aktion mit einem Korbleger ab. Goetz nickt zufrieden.
Seit dieser Saison trainiert der 33-Jährige die Damenmannschaft aus der 2. Regionalliga Nord. Mit Erfolg. Schon einen Spieltag vor Schluss steht sein Team nach 14 Siegen und nur einer Niederlage als Aufsteiger fest. Zudem haben sich seine Frauen im Hamburger Pokal ins Halbfinale geworfen. Gegner am 26. April in der Sporthalle Wandsbek ist Titelverteidiger SC Rist Wedel.
„Jens ist ein unkomplizierter, feinfühliger Typ, ein guter Basketballer, der weiß, wie er uns am Abend nach einem Arbeitstag noch belasten kann“, sagt Wiebke Seidenkranz, 37, die Mannschafts- und Wortführerin. Seidenkranz spielte früher in der Bundesliga, und sie hat in ihrer Karriere schon viele Trainer erlebt: die lauten, die gern mal schreien, die leisen, die wenig bis nichts sagen, Deutsche und Ausländer, die sie oft nicht verstand. „Einen wie Jens habe ich mir eigentlich immer gewünscht“, sagt sie. Er sei sehr geduldig, nie aufbrausend, „es passt einfach“.
Das findet auch Goetz. Es habe ihn am Anfang aber ein wenig Überwindung gekostet, um als Trainer mit hörenden Mannschaften zu arbeiten, sagt er. Gehörlose sind oft misstrauisch, sie wissen nicht, was über sie geredet wird, sie merken nicht, wenn sich jemand ihnen nähert. „Meine Freunde haben mir jedoch Mut zugesprochen, mir das zugetraut.“
Gehörlose Teams, vornehmlich Hamburger Auswahlmannschaften, hatte der 1,98 Meter große Center, der mit der Nationalmannschaft 2001 in Rom an den Deaflympics, den Weltspielen der Gehörlosen, teilnahm, schon länger trainiert. Der Rollentausch erfolgte vor rund drei Jahren beim Eimsbütteler TV, als ihn sein Trainer eines Abends zu den Oberliga-Damen in der Halle nebenan schickte. „Geh mal rüber“, sagte er, „mach dir keine Sorgen, du kannst es!“ Goetz, von Beruf CNC-Fräser, konnte es. Er ist ein sensibler Beobachter, zieht seine Schlüsse aus Bewegungen und Körpersprache, sucht ständig den Augenkontakt. „Wenn jemand kaputt ist, sehe ich es möglicherweise eher als andere“, sagt er. Es waren Sükran Gencay und Claudia Frank, zwei ehemalige Spielerinnen des ETV, die nach ihrem Wechsel zur BG West im vergangenen Sommer Goetz als Trainer empfahlen.
„Natürlich war das zuerst eine gewöhnungsbedürftige Situation“, sagt Seidenkranz, „doch wir haben schnell Spaß miteinander gehabt.“ Goetz grinst zu diesen Worten, die ihm Gebärdensprachdolmetscherin Margret Mögling-Eßmüller übersetzt. Inzwischen haben Goetz’ Spielerinnen einige Gebärden gelernt, basketballspezifische wie Fast Break oder Defense, der geplante Intensivkurs kam wegen Terminschwierigkeiten bisher nicht zustande. Catharina Barz hat an der Universität Hamburg ein Seminar in Gebärdensprache belegt, und falls es mal zu Kommunikationsschwierigkeiten kommen sollte, was selten ist, kann sie vermitteln.
Wenn Goetz aber im Training fragt, „was machen wir jetzt?“, den Filzstift nimmt, um auf dem Taktikbrett Spielzüge zu zeichnen, wissen seine Spielerinnen sofort die Antwort, formen Zeigefinger und Daumen zu einem Kreis und bewegen ihre Hände auf und ab. Das heißt: spielen! Goetz schüttelt dann den Kopf, lacht, weil er diese Reaktion kennt. Statt zu spielen, lässt er Freiwürfe üben. Nichts anderes haben seine Frauen erwartet.
Es ist diese Selbstverständlichkeit, mit der beide Seiten ungezwungen miteinander umgehen, die fasziniert. „Wenn ich Jens beschreiben müsste, würde mir erst an vierter oder fünfter Stelle einfallen, dass er gehörlos ist“, sagt Seidenkranz. Goetz, der nur Geräusche wahrnimmt, wünscht sich dennoch öfter einen Gebärdensprachdolmetscher an seiner Seite: „Ich könnte schneller und effektiver meine Ziele umsetzen, vieles tiefgründiger angehen.“ Stefan Schlegel, 52, sportlicher Leiter des SV Eidelstedt, würde gern helfen, doch es fehlt das Geld: „Mehr als ein- oder zweimal in der Saison ist mit unserem Etat eine solche Aktion nicht möglich.“
Bei aller Normalität im Umgang gibt es Situationen, die ungeklärt sind. Rücksicht nehmen ist solch ein Thema. Neulich beim Mannschaftsessen nach einem Spiel, erzählt Seidenkranz, „hat Jens im Restaurant sein Steak medium bestellt, bekommen hat er eins, das nur kurz angebraten war.“ Der Laden war voll, „und ich wusste nicht, sollen wir jetzt den Kellner heranrufen, entmündigen wir Jens vielleicht damit, oder macht er das besser selbst“. Goetz wollte schließlich keine Reklamation. „Aber sonst hättest du gern für mich zur Bedienung gehen können. Damit hätte ich kein Problem gehabt“, sagt er.
Über gelegentliche Missverständnisse mit Schiedsrichtern können alle im Team nur lachen: „Wir erklären den Schiris vor dem Spiel immer, dass unser Trainer gehörlos ist“, sagt Seidenkranz. „Einmal aber hat sich Jens nach einer Fehlentscheidung furchtbar aufgeregt. Die Schiris gingen auf ihn zu, redeten auf ihn ein. ‚Hallo, er hört nichts‘, sagte ich. Daraufhin sprachen sie Englisch mit ihm. Das ist einigen von uns anfangs auch mal passiert.“ Inzwischen verstehen sich alle. Ohne Worte.
@Auszug vom Hamburger Abendblatt vom 18.03.2014